(K)ein Interview mit Clint Eastwood

Die Tageszeitung Kurier veröffentlichte ein Interview mit Clint Eastwood anlässlich seines bevorstehenden Geburtstages. Drei Tage später war der Kurier weltberühmt und Österreich hatte einen Medienskandal. Oder?
TL; DR
Die Tageszeitung Kurier veröffentlich ein Interview mit Clint Eastwood, das international breit aufgenommen wird. Clint Eastwood sagt, alles sei „erfunden“. Die Berichterstattung dreht sich. Heimische Medien berichten ausschließlich über die Vorwürfe an den Kurier.
Der Kurier erklärt, dass das Interview aus Zitaten Eastwoods aus mehreren Gesprächen zusammengesetzt war. Qualität und Transparenz war keine gegeben. Die Zusammenarbeit mit der Journalistin wird beendet.
Was ist passiert?
Am 3. Mai um 5 Uhr morgens veröffentlicht die Tageszeitung KURIER hinter der Paywall ein Interview mit Clint Eastwood (Volltext via Pressreader.com) anlässlich seines bevorstehenden 95. Geburtstag. Neben banalen Antworten auf Fragen nach der Gesundheit und der Arbeit als Regisseur, wenn man selbst Schauspieler war, gibt er auch ein nostalgische Antwort…
Was halten Sie nach einer 70-jährigen Karriere im Filmbusiness von den derzeitigen Entwicklungen?
Ich sehne mich nach den guten alten Tagen, wo Drehbuchautoren in kleinen Bungalows am Studiogelände Filme wie „Casablanca“ geschrieben haben. Wo jeder eine neue Idee hatte. Wir leben in einer Ära der Remakes und Franchises. Ich habe dreimal Fortsetzungen gedreht, aber das interessiert mich schon lange nicht mehr. Meine Philosophie ist, mach etwas Neues oder bleib zu Hause.
Der knackige Satz „Mach etwas Neues oder bleib zu Hause“ sollte weltweit aufgenommen werden.
Bald darauf übernimmt die Nachrichtenagentur Reuters das Interview und stellt einen Bericht in englischer Sprache online. Bis in die Morgenstunden des 3. Juni erscheinen mehr als 1.200 internationale Onlineartikel über die Aussagen Eastwoods, basierend auf REUTERS aber immer auch den Kurier zitierend. Darunter neben großen Plattformen wie Yahoo oder MSN und deren Ableger auch FOX News, die spanische Marca, Daily Mail oder auch Branchenblätter wie Variety, Indiewire und Deadline.
Deadline brachte dann auch die Geschichte zum Kippen. Clint Eastwood gab dem Onlinemagazin eine Stellungnahme ab, dass er weder dem Kurier noch sonst jemanden in letzter Zeit ein Interview gegeben hätte. Die Aussagen darin seien „phony“, also falsch.
Daraufhin wendet sich die Berichterstattung. Die Vorwürfe gegen die Zeitung werden zwar nicht mehr so breit, dafür aber von bedeutenderen Medien weltweit aufgegriffen. Ein Grund ist sicher, dass Reuters diesmal nicht berichtet und so auch viele Medien nicht (semi-)automatisiert Content wiedergeben, der für ihre Leser interessant zu sein scheint. Insgesamt erscheinen über 2.000 Artikel – weltweit.
Und in Österreich?
Über das Interview und das, was Eastwood gesagt haben soll, berichtete nur ein kleines Filmmagazin. Allerdings schreiben dann nahezu alle relevanten Onlinemedien über die Vorwürfe und lassen es sich nicht nehmen, den (vermeintlichen) Fehltritt der Konkurrenz zu thematisieren.
Der Kurier hat die Vorwürfe untersucht und Chefredakteur Martin Gebhardt hat am Dienstagabend ein Statement veröffentlicht.
Zusammengefasst: Der Artikel sei auf Basis mehrere Gespräche entstanden, die die Journalistin mit Clint Eastwood über mehrere Jahre geführt habe. Diese Gespräche waren sg. „Round Tables“, bei denen mehrere Journalisten anwesend sind und Abschriften davon zu Interviews verwertet werden dürfen. Das heißt, alle Zitate sind belegbar, aber die Gestaltung eines Geburtstagsporträts als Interview war falsch. Außerdem sei der Eindruck eines neuen Interviews entstanden. Weil der Kurier auf Qualität und Transparenz wert lege, wird die Zusammenarbeit mit der Journalistin beendet.
Update 4. Juni, 08:00: Die Journalistin wird in Der Standard und in Der Spiegel mit anderen Zahlen zitiert, als der Kurier nennt. Außerdem sagt sie – ebenfalls in Der Spiegel – das der Text nicht als „aktuelles“ Interview ausgewiesen war.

Was sind jetzt die Issues?
Der Kurier hat seiner erfahrenen Journalistin vertraut. Außerdem war zumindest ein Absatz nicht mehr aktuell und damit inhaltlich falsch, der sich auf den Kinostart Eastwoods letzten Film JUROR #2 bezog. Auch der Hinweis, wie das „Interview“ zustande kam, wäre angebracht gewesen. Sowohl die Journalistin, deren Name beim Artikel dabei steht, als auch die verantwortliche Redaktion in der Muthgasse sind für die Qualität des Textes und die Transparenz verantwortlich.
Reuters hat den Artikel übernommen, übersetzt und den Abschnitt zum alten Film korrekt umformuliert. Die wussten, dass dieser Artikel Potential hat, haben aber nicht kurz innegehalten, warum ein Weltstar ausgerechnet dem Kurier ein Interview gibt. Reuters vertraute auf die etablierte, seriöse Medienmarke.
Weltweit übernehmen Medien Inhalte von Nachrichtenagenturen. Der Reuters-Artikel wird anlässlich des Geburtstages von Clint Eastwood zu einem bequemen Stück Content. Man vertraut auf die renommierte Presseagentur. Als die Stellungnahme von Eastwood in Deadline erscheint, veröffentlichen aber nicht alle Medien sofort Korrekturen oder erneute Artikel – es berichten teilweise ganz andere Medien.
In der ganzen Kette sind Fehler passiert und der (weltweite) Journalismus schaut hier nicht gut aus.
Weil alle Medien extremen ökonomischen, zeitlichen und personellen Druck ausgesetzt sind. Keine Innehalten, keine zusätzliche Kontrolle, sondern pures „Vertrauen“. Beginnend beim Kurier selbst, wo dieser Artikel so rausging. Eine Mitschuld wird im Statement nicht eingestanden.
Und weil Inhalte bequem via Nachrichtenagenturen verfügbar sind. Wir erleben das auch in Österreich 100x am Tag, dass APA-Texte unhinterfragt und unbearbeitet übernommen werden.
Das Statement des Kurier zeigt auch einen Blick hinter die Kulissen des Filmjournalismus und in welcher Oberflächlichkeit da operiert wird (Dazu an anderer Stelle einmal mehr). Fairerweise muss man sagen, dass es kein Problem gegeben hätte, wenn die Journalistin ein Porträt anstatt eines Interviews geschrieben hätte. Aber der Artikel wäre wahrscheinlich nicht international aufgenommen worden, weil es nur ein Geburtstagsporträt unter vielen gewesen wäre.
Die freie Journalistin hat handwerkliche Fehler gemacht und hat jetzt mindestens einen Auftragnehmer verloren. Vielleicht folgen weitere. Der Kurier hat schlechte internationale Presse und nationalen Spott. Es wird aber nächste Woche vergessen sein.
Es ist kein Skandal. Kein Relotius 2.0 oder gar mit den Hitler-Tagebüchern zu vergleichen, wie es manche taten.
Am Ende haben wir einen Tag lang über Journalismus diskutiert und hoffentlich was gelernt.
Vielleicht bleibt uns allen etwas hängen.
Man wird ja wohl noch hoffen dürfen.
Was denkst du?
Bildercredits: Logo: KURIER Marketing | Bild: Public Domain | Collage: CC BY-SA 4.0
Als ich das mit dem „Geburtstagsartikel“ (noch nicht das Auffliegen) mitbekam, fiel mir das mit „Juror # 2“ schon auf. „Hä? Der Film hatte doch schon bereits den Kinostart bei uns?“ Ich hielt das nicht für tragisch, nahm an, dass das Interview zu einem früheren Zeitpunkt stattfand – und eben erst jetzt veröffentlicht wurde. Normalerweise würde man das mit dem Filmstart dann weglassen. Dass es drin geblieben ist, hielt ich für ein patschertes Versehen des jeweiligen Redakteurs (nicht der Journalistin) beim Einrichten des Textes für die Publizierung. War das halt jemand, der sich halt mit Film und Hollywood nicht so gut auskannte.
Ich hatte den Artikel auch nur so bruchstückhaft überflogen. Dass es ein Geburtstagsinterview war, fiel mir nicht so auf. Und es war auch nicht der „Kurier“-Artikel, sondern ein Medium, das den „Kurier“ zitierte bzw. eine Agenturmeldung übernahm. Das einzige, was hängen blieb, war dieses “ Mach etwas Neues oder bleib zu Hause“. Weil eigentlich sollte „Juror #2“ der letzte Film des 95-jährigen Clint Eastwood werden. War dieser Satz ein Hinweis, dass er es sich noch einmal überlegt hat? Dass er doch noch etwas drehen wollte? Und ich glaube, darauf sind die Medien auch angesprungen.
So, wie Du es gesagt hast… es ist absolut zutreffend, dass nichts passiert wäre, wenn die erfahrene Hollywood-Reporterin den Inhalt als Porträt zum Geburtstag präsentiert hätte. Aber als Interview, das erst vor kurzem persönlich mit dem Star gemacht wurde? Ja, das kommt ungut rüber.
Aber siehst Du eine „Mitschuld“ beim „Kurier“, weil er der Reporterin mit jahrelanger Hollywood-Erfahrung und jeder Menge Connections vertraute?
JA. Auch weil den Artikel dort niemand kontrolliert hat vor Veröffentlichung. Ein systemisches Problem. Des Journalismus allgemein. Hochgekocht im Film/Society-Journalismus.